Ev-Luth. Kirche St. Petrus, Hamburg-Harburg

Schleifenwindladen, mechanische Tasten- und Registertraktur, Manual I und Pedal durchschoben, (2) X = Doppelschleife, (3)

Koppeln:II – I 16′, II – P 4′, (1) II – I, II – P, I – P
Stimmung: Neuendeich I, Tonhöhe: a‘ – 440 Hz. bei 18° C
Winddruck: I. Manual / Pedal: 75 mm WS, II. Manual: 80 mm WS Disposition:Thomas Panfil, Hans-Jürgen Wulf, G. Christian Lobback Gesamtplanung, Gehäuseentwurf und Mensuren: G. Christian Lobback

Manual I C – g“‘

1 Principal 8′
2 Bordun 8′
3 Octave 4′
4 Trichterflöte 2′
5 Mixtur III-IV 2′

Pedalwerk C – f‘

6 Subbaß 16′
7 Principal 8′ X
8 Gedacktbaß 8′

Manual II C – g“‘ (Schwellwerk)

9 Rohrflöte 8′
10 Viola da Gamba 8′
11 Flöte 4′ (überblasend)
12 Nasat 2 2/3′
13 Terz 1 3/5′
14 Fagott-Oboe
15 Tremulant

1) Oktavkoppeln Die Oktavkoppel wird manchmal mit der Oktavtransmission verwechselt. Die Oktavkoppel betätigt über das Hebelsystem im Bereich des mechanischen Koppelstocks die Tasten der höheren (Oberoktavkoppel) respektive tieferen Oktave (Unteroktavkoppel) desselben oder eines anderen Manuals oder des Pedals. Folglich gelangen damit die Pfeifen aller auf dem betreffenden Manual gezogenen Register zur Ansprache. Oktavkoppeln gab es bereits Mitte des 18. Jahrhunderts. Es ist also keineswegs so, daß erst die romantische Orgel über Oktavkoppeln verfügt. Nebenbei bemerkt ist auch der Schwellkasten bereits um 1730 von Christoph Gottfried Schröter zuerst gebaut worden und somit keine Errungenschaft der romantischen Orgel.

2) Durchschobene Schleifenwindladen Bis in die Barockzeit hinein haben Hauptwerk und Pedal häufig eine gemeinsame Lade gehabt. Vor allem der norddeutsche Orgelbau hat an dieser überaus sinnvollen Konstruktion lange festgehalten. Noch heute zeigen uns bedeutende Orgelprospekte wie z.B. St. Johannis Lüneburg oder St. Ansgari Bremen, daß die Pedaltürme – und damit die Pedalladen – erst nach 1700 angebaut wurden. Die häufig anzutreffende Meinung, durchschobene Laden seien der romantischen Orgel zuzuordnen, ist daher unzutreffend.

3) Transmission (Doppelschleife) Die ersten Transmissionen wurden in Deutschland bereits 1592 von MICHAEL HIRSCHFELDER in Breslau gebaut. Die in der neuen Petrus-Orgel angewendete Normaltransmission macht es möglich, daß Principal 8′ in Manual I mit Hilfe einer zweiten Schleife (daher der Name Doppelschleife) autonom mit einem eigenen Registerzug im Pedal registriert werden kann. Auch die seltener gebauten Oktavtransmissionen haben sich über die Jahrhunderte durchaus bewährt und fördern bei intelligenter Anwendung das künstlerische Orgelspiel.

Hanseatischer Orgelbau im Licht des 21. Jahrhunderts

Der Stimmton der Orgel der Evangelischen St. Petrus-Kirche in Hamburg-Harburg entspricht der gegenwärtig gültigen Stimmtonnorm. Als Stimmton definiert man einen Ton, der einer genau festgelegten Frequenz entspricht. Demzufolge wird der Stimmton mit einer Schwingungszahl angegeben, die mit einer Tonbezeichnung kombiniert wird. Wer die Disposition studiert, wird u.a. den folgenden Hinweis lesen: Tonhöhe: a‘ = 440 Hz bei 18° C. Der interessierte Leser wird nun vielleicht die Frage stellen: was hat die Stimmtonhöhe mit der Raumtemperatur der St. Petrus-Kirche zu tun? Es besteht bekanntlich eine Wechselbeziehung der Tonhöhe der Orgel mit der Raumtemperatur. Unterhalb von 18° C sinkt der Stimmton der Orgel unter 440 Hz und bei steigender Temperatur steigt er über 440 Hz an.

In Europa hat in den vergangenen rund 400 Jahren die jeweils gültige Stimmtonhöhe zeit- und ortsabhängig um ca. sechs Halbtöne geschwankt. Offenbar haben verschiedene Gründe die Stimmtonhöhe maßgeblich beeinflußt. Von den bekannten Tonhöhen der Instrumente des Orgelbauers ARP SCHNITGER (1648 – 1719) haben neunzehn Orgeln den Mittelwert a‘ -467 Hz (mit einem Bereich von 460 Hz bis 476 Hz) und neun Orgeln den Mittelwert a‘ -492 Hz (mit einem Bereich von 489 Hz bis 501 Hz).

Wer nun ausschließlich musikalische oder akustische Gründe für diese sehr hohen Stimmtöne vermutet, irrt. Es waren auch finanzielle Gründe, die zu den hohen Stimmtönen bei den Orgeln geführt haben. Es leuchtet ein, daß sich ein hoher Stimmton material- und platzsparend, insbesondere in den tiefen Tonlagen, ausgewirkt haben mag, weil die Holz- und Metallpfeifen mit reduzierter Länge gebaut werden konnten.

Thomas Panfil, der Kirchenmusiker der St. Petrus-Kirchengemeinde, hat gegenüber seinem Kollegen an der berühmten Arp Schnitger-Orgel von St. Jacobi Hamburg, den unbestreitbaren Vorteil, daß er nicht ständig transponieren muß, weil der Stimmton wesentlich tiefer angesiedelt ist, als der von der Schnitger-Orgel. Während an der Schnitger-Orgel die Interpretation z.B. der Bach’schen Orgelwerke mit einem häufigen Tonartwechsel verbunden ist, wo die modifizierte mitteltönige Stimmung natürlich den wesentlichen Anteil hat, kann an der neuen Orgel von St. Petrus auf das lästige Transponieren verzichtet werden.

Wer nun aber aus meinen Bemerkungen ableitet, daß a‘ -440 Hz der ideale Stimmton (Kammerton) sei, befindet sich im Irrtum. So wissen wir von MOZART, daß er c‘ auf 256 Hz gestimmt hat, da sein a‘ zwischen 427 und 430 Hz lag.

Während des Wiener Kongresses 1814/15 führte ZAR ALEXANDER seine hochgestimmten Blechblasinstrumente ein; danach forderten die gekrönten Häupter Europas ebenfalls den „strahlenden“ Klang, der durch die höhere Stimmung entsteht. Allein die klassischen Musiker leisteten gegen den höheren Stimmton Widerstand, während FRANZ LISZT und RICHARD WAGNER zwischen 1830 und 1840 die Höherstimmung durchsetzten. Um 1850 herrschte bereits Chaos.

1859 wurde in Frankreich auf Empfehlung u.a. von ROSSINI ein Gesetz verabschiedet, daß a‘ -435 Hz festsetzte, den tiefsten der damals in Frankreich üblichen Kammertöne (435 – 456 Hz). VERDI versuchte 1884 den Stimmton auf a‘ -432 Hz in Italien zu institutionalisieren. Eine internationale Stimmkonferenz in Wien lehnte 1885 einen solchen Kammerton als zu niedrig ab; man einigte sich auf a‘ -435 Hz; die Alternative a‘ -440 Hz wurde als zu hoch abgelehnt. Die METRPOLITAN OPERA New York und weitere renommierte Bühnen in USA, Frankreich und dem übrigen Europa praktizierten bis 1939 a‘ -432 – 435 Hz.

1938 ordnete NSDAP-Reichsminister Joseph Gobbels a‘ -440 Hz als verbindlichen Stimmton für Deutschland an. Der Antrag des Akustikkomitees des Berliner Rundfunks an die British Standard Association, die „Deutsche Rundfunkstimmung“ von a‘ -440 Hz international fest zu schreiben, kam wegen des Ausbruchs des II. Weltkriegs nicht mehr zustande.

Eine 1953 in London einberufene Stimmtonkonferenz versuchte, a‘ -440 Hz als weltweiten Standard festzulegen. Da vom europäischen Festland keine Musiker eingeladen worden waren, wurde die Resolution nicht beachtet. Professor DUSSANT vom Pariser Konservatorium führte daraufhin ein Referendum in Frankreich durch. 23.000 Musiker stimmten für a‘ -432 Hz.

Ein Artikel im TIME MAGAZIN vom 9. August 1971 berichtete unter der Überschrift: „POKER UM DEN KAMMERTON“, daß a‘ -440 Hz, dieser vermeintliche internationale Standard, weitgehend mißachtet wird. So sei eine tiefe Stimmung allgemein üblich – wie in Moskau, „wo die Orchester in einem eleganten, warmen Ton schwelgen, der durch das kehlkopfentspannende a‘ -435 Hz Schwingungen erreicht wird“, oder bei britischen Kirchenorgeln, die noch vor wenigen Jahren ca. a‘ -420 Hz gestimmt waren.

Man hat die Singstimme des Menschen das Grundinstrument in der Musik genannt. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache ist aus meiner Sicht der ideale Stimmton a‘ -430 – 432 Hz. Viele weitere Argumente ließen sich außerdem finden.

Das neue Orgelwerk ist nun spielbereit: es dient der Kirchenmusik und dadurch der Kultur und menschlichen Beziehungen; somit übernimmt es eine Aufgabe, die vor über einem halben Jahrtausend begann und insbesondere auch Norddeutschland zu einem Orgelkulturland hat werden lassen.

Die Orgel hat ja als ein jeweils individuell geplantes und angefertigtes Instrument, ihrer unmittelbaren Eingliederung in das architektonisch-ästhetische Konzept eines vorgegebenen Raums sowie ihrer speziellen liturgischen Funktionen wegen eine ungleich ausgeprägtere handwerkliche, architektonische und auch klangästhetische Entwicklung erfahren als dies bei den übrigen Instrumenten der Fall ist. Solche instrumentengeschichtliche Besonderheiten stehen freilich immer in einer engeren Wechselbeziehung zu den musik- und interpretationsgeschichtlichen Eigenheiten des Orgelspiels und der Orgelkompositionen der fraglichen Epoche. Die überaus reiche und charakteristische norddeutsche Orgellandschaft wäre wohl kaum denk- und deutbar ohne die großen Organisten Norddeutschlands im 17. und 18. Jahrhundert, deren kompositorisches Schaffen von herausragender musikgeschichtlicher Bedeutung ist. Schon im Hochmittelalter sind für Lübeck, Ratzeburg, Bremen, Stade, Wismar und weitere norddeutsche Städte Orgelwerke nachgewiesen. Die ältesten heute noch erhaltenen Orgeln in Norddeutschland sind dem 15. und 16. Jahrhundert zuzurechnen. Einen allgemeinen Eindruck von der Blüte des Orgelspiels und insbesondere des Organistenstandes um 1600 mag das überlieferte Namensverzeichnis der über 50 Revisoren vermitteln, die aus Mittel- und Norddeutschland 1596 anläßlich der landesherrlich angeordneten Probe der neuen Orgel von DAVID BECK in der Gröninger Schloßkirche vorstellig geworden sind.

Sweelinck und seine norddeutschen Schüler

Als Ahnvater der norddeutschen Organistenzunft wird der große Niederländer JAN PIETERSZOON SCHWEELINCK (1562-1621) namhaft gemacht, der mit einigem Recht als „Hamburger Organistenmacher“, gar als „deutscher Organistenmacher“ bezeichnet worden ist. Die Zahl seiner Schüler in Norddeutschland ist enorm. Um 1640 wirkten allein vier davon an den vier Hamburger Hauptkirchen: JACOB PRAETORIUS II (1586-1651) an St. Petri, dessen Bruder JOHANN PRAETORIUS (1595-1660) an St. Nicolai, HEINRICH SCHEIDEMANN (1595-1663) an St. Katharinen und schließlich ULRICH CERNITZ (1598-1654) an St. Jacobi. Als prominenter Vertreter der norddeutschen Sweelinckschüler wäre weiterhin MATTHIAS WECKMANN (1616-1674) zu nennen, seit 1655 in Hamburg Organist und Kirchenschreiber an St. Jacobi und St. Gertruden, Trauzeuge FRANZ TUNDERS und mit JOHANN JACOB FROBERGER befreundet, der seinerseits gemeinsam mit JOHANN ADAM REINCKEN (1623-1722) bei JACOB PRAETORIUS II und HEINRICH SCHEIDEMANN die Sweelinck’sche Orgelkunst erlernte. 1655 wurde Ersterer als Organist an St. Jacobi in Hamburg berufen, wo er mit CHRISTOPH BERNHARDT 1668 das berühmte Collegium Musicum gründete. REINCKEN übernahm dann 1663 das Organistenamt an St. Katharinen von SCHEIDEMANN. Mit seinen monumentalen, intellektuell konzipierten Choralphantasien gilt er als einer der großen Repräsentanten der barocken norddeutschen Tadition, der – nebenbei bemerkt – Mitbegründer der Hamburger Oper war und wiederholt von dem jungen JOHANN SEBASTIAN BACH aufgesucht worden ist.

Schließlich sei in diesem Zusammenhang noch auf den in Stade und Hamburg wirkenden VINCENT LÜBECK (1654-1740) hingewiesen, dem als einer der letzten herausragenden Barockmeister im Norden eine gewisse Sonderstellung zukommt. 1702 trat er in Hamburg das Organistenamt an St. Nicolai an, nachdem er zuvor in Stade an der Schnitger-Orgel von St. Cosmae bereits zu einiger Berühmtheit gelangt war. Als Orgelkomponist zeigt er stilistische und technische Ähnlichkeiten zu DIETRICH BUXTEHUDE (1637-1707), der nach seiner dänischen Organistenzeit bekanntlich an St. Marien in Lübeck amtierte.

Ein Schüler BUXTEHUDES wiederum war der mit 31 Jahren früh verstorbene und hochbegabte NICOLAUS BRUHNS (1665-1697), der bereits im Alter von 21 Jahren als Organist in Kopenhagen wirkte und zwei Jahre später das Organistenamt in Husum übernahm. In seinem kurzen Leben hat er neben seinen heute noch viel gespielten Orgelwerken auch kunstvoll-koloraturreiche Solokantaten komponiert.

Vorrangstellung Hamburgs als barocke Musikmetropole des Nordens

Bis in das frühe 17. Jahrhundert hinein hatte sich auch im orgelbaulichen Bereich in Norddeutschland zunächst niederländischer Einfluß durchgesetzt. Noch heute sind in Ostfriesland einige Orgeln aus dem (heutigen) Nordholland mehr oder weniger gut erhalten geblieben. Unangefochtener Mittelpunkt der zuvor umrissenen, blühenden norddeutschen Orgel- und Orgelmusikkultur wurde neben den übrigen Zentren wie Bremen, Lübeck oder Stade ganz zweifellos bereits im 16. Jahrhundert Hamburg; eine Führungsrolle, die der Stadt bis zum Tode ARP SCHNITGERS 1719 sicher sein sollte. Nach dem Urteil FRIEDRICH CHRYSANDERS, Musikforscher in Mecklenburg, galt Hamburg am Ende des 17. Jahrhunderts als die bedeutendste Musik- und Kunststadt unter den freien Reichsstädten.

Es ist heute nicht ganz einfach – und vielleicht auch müßig – darüber zu spekulieren, worauf sich diese kulturgeschichtliche Vorrangstellung Hamburgs im Einzelnen gegründet haben mag. Eine wesentliche Ursache wäre wohl auch in der militärischen Verteidigungsbereitschaft Hamburgs mit den damals stärksten Festungswerken in ganz Nordeuropa zu suchen, die der freien hansestädtischen Bürgerschaft berechenbare Sicherheit und somit in gewissen verläßlichen Grenzen (kultur)politische Stabilität zu garantieren vermochte. Und so ist es auch nicht allzu verwunderlich, daß es nicht zuletzt zahlreiche Orgelbauer nach Hamburg und in dessen Umgebung zog. Die vereinzelt erhalten gebliebenen Instrumente aus dieser Epoche regen den heutigen Betrachter dazu an, einen Rückblick auf die Entwicklung des Orgelbaus in Norddeutschland zu tun; auf einen Orgelbau, der sich oft unter wirtschaftlichen und politisch schwierigen, unter kreativen Gesichtspunkten aber gleichzeitig auch außerordentlich günstigen Bedingungen entfaltet hat.

Schulbildungen

Zwei verschiedene Schulbildungen im norddeutschen Orgelbau, deren unmittelbare Wirkungsfelder bis in den modernen Orgelbau hinein reichen, sollen am Anfang unserer Betrachtungen stehen: Die erste Tradition verdankt sich der orgelbaulichen Kette „SCHERER – FRITZSCHE – STELLWAGEN“, die zweite und jüngere Lehrtradition der Linie „KRÜGER – HUSS – SCHNITGER“. Über die Tätigkeiten von HANS SCHERER dem Älteren (1525-1611) in Hamburg St. Jacobi, St. Katharinen und St. Petri sind wir vergleichsweise gut informiert.

HANS SCHERERS Neuerungen

SCHERER und dessen Sohn HANS SCHERER der Jüngere (1570/80-nach 1631) übernahmen zunächst wesentliche Teile des niederländischen Stils. Entscheidende Anstöße seiner Kunst verdankte er jedoch auch dem bedeutenden westfälischen Orgelbauer HENDRIK NIEHOFF aus Herzogenbusch. Dieser war es, der das Herzogenbuscher Orgelbaukonzept nach Hamburg brachte (St. Petri – 1548-51; Lüneburg, St. Johannes – 1551-53). Die Orgel baute er zusammen mit JASPER JOHANNSEN; sie besaß Springladen, deren Qualität Schnitger 150 Jahre später kritisierte. Die klangästhetisch unmittelbar ansprechenden und orgelbaulich überzeugenden Prinzipalchöre der NIEHOFF-Orgeln, die bis dahin im Norden unbekannten Weitgruppen mit der lückenlosen Klangpyramide von 16′, 8′, 4′ über 2 2/3′, 2′ und 1 1/3′ bis zum 1′, die Zungenchöre mit langbecherigen Trompeten, Schalmeien, Zinken, Regalen und Krummhörnern, all dies zusammen übte verständlicherweise auf die Musikwelt der Zeit eine unvorstellbare Faszination und Anziehungskraft aus. Auch das Pedal war als Reaktion auf die Forderungen der norddeutschen Organisten hier schon reicher besetzt als bei den brabantischen Orgeln. HANS SCHERERS Orgelkonzept bietet gewissermaßen ein Traditionskonglomerat im Sinne eines bilanzierenden, glücklichen Zusammenfügens der innovativen Leistungen des althamburgischen Orgelbaus, mithin der Bauweise des ESAIAS BECK aus Mitteldeutschland und des von HENDRIK NIEHOFF nach Hamburg gebrachten Orgelkonzepts.

Seine Werkstatt und orgelbauliche Schule wurde weitergeführt durch den Sohn Hans, der unter anderem die Orgel in St. Ägidien in Lübeck baute. Das prächtige, erhaltene Barockgehäuse konnte Mitte der achtziger Jahre von polnischen Restauratoren vollständig wieder hergestellt werden, wobei der Klais’sche Neubau des Werks kaum den alleine schon durch dieses Gehäuse geweckten Erwartungen und Ansprüchen gerecht werden kann. Im Gegensatz zu NIEHOFF baute die Orgelbauerfamilie SCHERER in Hamburg in St. Jacobi 1576 ein den Manualwerken adäquates, selbständiges Pedalwerk mit immerhin bereits 13 (!) Registern, einschließlich des vollständigen Prinzipalchors. Die Zahl der selbständigen Pedalstimmen wurde vermehrt, der Tastenambitus der Manuale von C – bis c“‘ – bei kurzer tiefer Oktave – und im Pedal von C bis d gebracht. Durch die gruppenweise Anordnung der selbständigen (großen) Pedalpfeifen in den vom Hauptgehäuse separierten Zwillingspedaltürmen in C/Cis-Teilung wurde der schlankkompakte Gehäusetyp BRABANTS in den so genannten „HAMBURGER PROSPEKT“ umgeformt.

Hanseatischer Orgelbau und neuer Orgelmusikstil

Aufgrund dieser beachtlichen klanglichen Ressourcen ist es leicht erklärbar, weshalb die Kunst des virtuosen Orgelpedalspiels nach 1550 spezifisch in den nördlichen Breiten angesiedelt war. Ein weiteres Spezifikum der norddeutschen Orgelkunst verdankt sich ebenso dem Umstand, daß hier den Organisten im 17. Jahrhundert mit einem Mal große und vollstimmige Instrumente zur Verfügung standen. Dies förderte nämlich ein ausgeprägtes freistimmiges d. h. improvisatorisches Orgelspiel. Der so genannte „fantasische Stil“ (Stylus fantasticus) vermochte die kontrastreiche expressive Klang- und Farbpalette dieser Instrumente virtuos auszukosten. So verstehen und erklären sich etwa auch die norddeutschen Toccatentypen FROBERGERS, TUNDERS, REINCKENS, BUXTEHUDES, BRUHNS, LÜBECKS oder BÖHMS in ihrer mit freien und kunstvoll-imitatorischen Abschnitten durchsetzen Mehrteiligkeit. Insgesamt haben diese Formen jedoch ihren spontanen und lebendig-improvisatorischen Zug bewahrt. Die oftmals sehr unvermittelt erscheinende, auf expressive Kontraste abzielende Vielfalt von rhythmischen, harmonischen, kontrapunktischen und diastematischen Teilen wird somit zum Hauptmerkmal des mit diesen norddeutschen Barockorgeln aufs engste verbundenen Stylus fantasticus.

Es muß in diesem Zusammenhang freilich angenommen werden, daß infolge dieses Faktums die großen Organisten der damaligen Zeit in großem Umfang die Improvisationskunst gepflegt haben, was zudem auch historisch belegt ist. Somit haben wir es im Bereich der so genannten norddeutschen oder hanseatischen Orgelschule mit einer großen Zahl milieubildender – und dabei keineswegs automatisch drittrangiger – Organisten zu tun, von denen wir zwar den Namen – wie etwa im Falle ULRICH CERNITZ – jedoch keine schriftlich überlieferten Orgelwerke kennen.

Die Reformorgeln Gottfried Fritzsches

Für die weitere Entwicklung der norddeutschen Orgelkunst, und nicht zuletzt für die Orgelmusik, gingen zweifellos wegweisende Impulse von GOTTFRIED FRITZSCHE (1578-1638) aus, der 1629 als Hoforgelbauer aus Wolfenbüttel, wohin ihn MICHAEL PRAETORIUS geholt hatte, nach Hamburg kommt und sich mit seiner Werkstatt in Ottensen niederläßt. In Hamburg wirkte er als Nachfolger HANS SCHERERS des Jüngeren, bis zu seinem Tode 1638. Der weltgewandte Orgelbauer stammte aus Mitteldeutschland, der Vater war als Professor und Rektor der Leipziger Universität ein hochgeachteter Mann. Er selbst war befreundet mit MICHAEL PRAETORIUS.

Bevor FRITZSCHE nach Hamburg übersiedelte, hatte er bereits einige Instrumente gebaut, u.a. in der Schloßkirche zu Dresden (1612) und in der Stadtkirche im südlich gelegenen Bayreuth (1615). Diese frühen Instrumente verfügen über lediglich einen einzigen Prinzipalchor, nämlich den des „Prinzipalwerks“, das Pedal war indessen weitgehend noch unselbständig. Dies änderte sich jedoch, als FRITZSCHE 1626 zum ersten Mal anläßlich des Orgelneubaus für St. Ulrici in Braunschweig jedem Manual einen vollständigen eigenen Prinzipalchor zuordnete. Hinzu kommen die bereits bei seinen frühen Instrumenten gebauten Holzregister, die für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich waren und die „Prinzipalschwebung“, die man bislang aus dem altitalienisch beeinflußten Orgelbau kannte und die in Deutschland zu diesem Zeitpunkt kaum anzutreffen war.

GOTTFRIED FRITZSCHE war zudem einer der ersten Orgelbauer, der gemischte Stimmen (Mixturen) baute, die mit Rücksicht auf das polyphone Orgelspiel ausschließlich mit einem ansteigenden Plafond versehen waren. In der Zeit vor FRITZSCHE war es üblich, Mixturen mit einem gleichbleibenden Plafond zu bauen, der der Homophonie weit mehr entgegen kam. Dieses orgelbauliche Prinzip des Mixturenbaus sei hier wegen der besseren Verständlichkeit kurz erläutert: Im Verlauf der Tonskala (Manual/Pedal) steigt die maximale Tonhöhe der Mixturchöre jeweils bis zu einem obersten Gipfelton an, um unmittelbar wieder eine Quinte oder Oktave tiefer zurückzufallen; dem folgt sodann ein erneutes Ansteigen („Repetieren“) bis zum Diskant der Klaviatur etc. Wenn die Gipfelpunkte sämtlicher Repetitionen eine horizontale Linie bilden, handelt es sich um einen gleichbleibenden Plafond; steigt diese gedachte Linie jedoch linear leicht nach oben hin an, so handelt es sich hierbei um einen ansteigenden Plafond.

Die Orgeln in den Hamburger Hauptkirchen wurden auf Veranlassung der dort wirkenden Organisten von GOTTFRIED FRITZSCHE nachhaltig umgebaut, so z.B. die Zungenchöre im Manual bis zur Trompete 16′, im Pedal bis zur Posaune 32′. Außerdem disponiert er für jedes Manualwerk einen eigenen Prinzipalchor auf 16′ und 8′-Basis; darüber hinaus reservierte er jedem der Manualwerke auch sein eigenes Klavier am Spieltisch, so daß in St. Jacobi und Katharinen große viermanualige Werke zur Verfügung standen. Dies waren für den Hamburger Orgelbau gänzlich neue Maßnahmen. Aber auch die anderen großen Kirchen der Hansestadt erhielten stattliche Instrumente, die ihrerseits die Blüte des damaligen hanseatischen Orgelbaus dokumentierten, der lange Zeit prägende Geltung für die weitere Entwicklung der Orgelmusik behalten sollte.

Keiner der Traditionsnachfolger FRITZSCHES, auch nicht dessen Geselle FRIEDRICH STELLWAGEN (****-1659), der sich in Lübeck niederließ und dem wir u.a. die Orgeln in St. Jacobi zu Lübeck (Rückpositiv) oder in St. Marien zu Strahlsund verdanken, vermochte diesem von FRITZSCHE entwickelten Konzept wesentliche, d.h. wirklich neue Komponenten hinzufügen; ebensowenig die bedeutenden Orgelbauer JOACHIM RICHBORN, und schließlich ARP SCHNITGER (1648-1719) und sein zahlreicher Schülerkreis. Die norddeutsche Barockorgel war mit GOTTFRIED FRITZSCHE als „neuer Orgeltyp“ bereits entwickelt. Somit darf GOTTFRIED FRITZSCHE legitimerweise als einer der maßgeblichen Begründer der barocken norddeutschen Orgellandschaft angesprochen werden. FRITZSCHE war es aufgrund eines überragenden Erkenntnisstands gelungen, als erster den vollständigen harmonikalen Proportionskanon in sein Hamburger Wirkungsfeld einzuführen.

Musikästhetischer und orgelbaulicher Wandel im 18. und 19. Jahrhundert

Während auch die östlich gelegenen Gebiete des Nordens in Mecklenburg, Vorpommern bis nach Sachsen-Anhalt noch zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts unter dem Primat des Hamburger Orgelbaus standen, kündigte sich um die Wende zum 19. Jahrhundert ein Stilwandel an, der auch die bis dahin scheinbar unerschütterlichen Prinzipien des traditionsreichen norddeutschen Orgelbaus mächtig ins Wanken brachte. Während die zu ihrer vollen Entwicklungsgestalt gereifte polyphone Orgel des 17. Jahrhunderts die Einzelstimmen in ausgeprägter und individueller Charakteristik anlegte und nach dem Werkgedanken gliederte, so drängt die Orgel des ausgehenden 18. Jahrhunderts – und verstärkt des 19. Jahrhunderts – nach Verschmelzung eines möglichst bruch- und konturenlosen Zusammenklangs, der die Möglichkeiten subtiler dynamischer Schattierung und linearer dynamischer Übergänge schätzte.

Die Mensurierung, also die Berechnung der Pfeifenquerschnitte in ihrem Verhältnis zueinander, wurde gegenüber der Tradition in zweifacher Hinsicht verändert: erstens durch die Wahrung konstanter Maßverhältnisse innerhalb der Pfeifenreihen der Einzelregister; zweitens durch die uniforme Angleichung der Mensurverhältnisse der Einzelregister untereinander. Wenn auch gewisse Einzelregister als Träger solistischer Farbwirkungen und demnach ohne wesentliche Bedeutung für den Gesamtaufbau der Disposition vorgesehen waren, wurde doch die Klangstärke als wichtiger angesehen im Vergleich zur Klangfunktion und der Klangfarbe. Eine Optimierung der Lautstärkedynamik ist somit das Prinzip aller Maßnahmen. Die verschiedenen Manuale wurden nach Mensur und Stärke, nicht aber nach ihrer klanglichen Charakteristik gegeneinander abgestuft. Somit waren die Einzelwerke der Orgel von vornherein nach dem Prinzip des dynamischen Kontrastes wie nach dem Additionsprinzip disponiert. Die Koppeln wurden zu einem unentbehrlichen Bestandteil, um die Register der verschiedenen Manuale zu mischen und um ein kräftiges Tutti zu erzielen, freilich aber auch, um in additiver Weise fehlende Farben und Stärkegrade aus anderen Klavieren zu entleihen.

Mit dem Zurücktreten des Werkprinzips verliert auch die unterschiedene räumliche Anordnung der Einzelwerke an Bedeutung. Insbesondere das Rückpositiv wird zunehmend seltener gebaut. Die Äqualbasierung der Werke verstärkt sich. Die Manuale werden nunmehr auf dem 8′-Ton angelegt. Das Pedal wird Baßklavier unter Zugrundelegung des 16′-Klangs.

Die Klangpyramiden der Manuale gleichen sich einander an. ARP SCHNITGERS Hamburger Orgeln in St. Nicoai oder St. Jacobi besaßen beide noch je zwölf Flöten unterschiedlicher Bauweise und Klangfärbung in den beiden Haupt-Klanggruppen! Es ist an den ungezählten Umbauten, die seit dem 18. Jahrhundert an alten Orgeln – oftmals ohne Sinn und Verstand – vorgenommen worden sind, stets in gleicher Weise geschehen, daß die Register höhere Lagen und hochliegende, strahlende Mixturen durch füllige und grundtönige Flöten, Gedackte oder Streicher unterschiedlichster Ausprägung ersetzt wurden, weil diese Register nunmehr nur noch als Plenumstimmen und Mischungsfaktoren betrachtet wurden, während sie im norddeutschen Barock für sich allein solofähig konzipiert waren oder in geschlossenen Klang- und Registergruppen ihre charakteristische Funktion hatten. Damit treten Register höherer Lagen, die bisher eine selbständige Aufgabe hatten, nur noch als klangverstärkende Faktoren in Erscheinung oder fallen sehr oft gänzlich weg.

Mit den oben genannten Maßnahmen sind die prägenden Charakteristika der klassischen Orgel des 17. und 18. Jahrhunderts in Norddeutschland durch Vernichtung der harmonikalen Struktur eliminiert worden. Mit dem Verlust der eigenständigen Bedeutung des norddeutschen Orgelbaus geht am Ende des 18. Jahrhunderts als eine unmittelbare Wechselwirkung und Folge freilich auch der Verlust einer mit gutem Recht als spezifisch norddeutsch anzusprechenden Orgelliteratur einher. Die bewährte und so überaus fruchtbare Allianz zwischen Orgelbauer- und Komponistenzunft löste sich endgültig auf; mit ihr endete und verschwand musikgeschichlich die herausragende Bedeutung der norddeutschen Orgelschule, deren – spärlich genug erhaltenen – instrumentalen Zeugen uns Heutigen bleibende Verpflichtung zur Erhaltung bieten.

von Christian Lobback, Neuendeich

MGG, Band 8, Stimmton S. 1813 – 1830
M.Mersenne schrieb in den 1630er Jahren (HARMONIE UNIVERSELLE, 1636/37, S. 169), daß eine normale Stimmpfeife auf den „Ton de Chapelle“ eingestimmt sei. Dies war vornehmlich die Bezeichnung für die Tonhöhe von Kirchenorgeln. Die bekannten Tonhöhen der meisten in Frankreich vor 1680 gebauten großen Orgeln liegen zwischen 388 und 396 Hz. für das a‘. Diese Tonhöhe war in Frankreich für Orgeln bis ins 19. Jahrhundert hinein maßgebend.
Als junger Orgelbauer habe ich Anfang der 1960er Jahre den Stimmton der großen Sauer-Orgel in Tönning / Eiderstedt von 435 auf 440 Hz. umgestimmt; damals auf ausdrücklichen Wunsch des seinerzeit dort amtierenden Organisten Bernhard. Aufgrund dieser Klangerfahrung würde ich aus heutiger Sicht eine solche Maßnahme ablehnen. Die Tonigkeit der einzelnen Registergruppen veränderte sich daraufhin teilweise so, daß die Eigenfarbe und der Eigencharakter von Registern mutierte. Kurze Zeit später wurde das wertvolle Instrument aufgrund des Paradigmenwechsels vernichtet und durch ein Instrument ohne sonderliche Wirkungskraft ersetzt.
HANDBUCH DER GRUNDLAGEN VON STIMMUNG UND REGISTER, Schiller-Institut e.V. (Hrsg.) Deutsche Ausgabe 1996 Dr. Böttiger Verlags-GmbH, Wiesbaden, ISBN 3-925725-28-8, Titel der amerikanischen Originalausgabe: „A Manual on the Rudiments of Tuning and Registration, Book 1, Introduction and Human Singing Voice“. © Schiller Institute, Washington 1992
Hans Kayser: DER HÖRENDE MENSCH, Engel & Co. Verlag, ISBN 3-927118-05-2, Stuttgart 1993.
Lyndon H. LaRouche: SO STRENG WIE FREI, Dr. Böttiger Verlags-GmbH, ISBN 03-925725-21-0
Caroline Hartmann: NIKOLAUS VON KUES und die Revolution in der Wissenschaft. Dr. Böttiger Verlags-GmbH, Postfach 1611, 65006 Wiesbaden, Internet: www.solidaritaet.com
Christian Lobback, Vortrag (19. Februar 1986) „BEDEUTUNG UND ERHALTUNG DER NORDDEUTSCHEN ORGELLANDSCHAFT AUS DER SICHT EINES ORGELBAUERS“, anläßlich einer Tagung der Evangelischen Akademie Hamburg
Christian Lobback, Vortrag (14.Mai 1993) „H.H. JAHNN UND SEIN BILD VON DER ORGEL“, Heinrich-Hertz-Schule, Hamburg
Gustav Fock, ARP SCHNITGER UND SEINE SCHULE, Bärenreiter Kassel 1974