St. Andreas, Ahaus-Wüllen

Schleifenwindladen, mechanische Tastentraktur, elektrische Registertraktur, Generalsetzer 128fach, Sequenzer vorwärts und rückwärts, Crescendo-Tritt, I. Manual und Pedal durchschoben, X Doppelschleife

Stimmung: Neuendeich I, Tonhöhe: 440 Hz bei 18° Celsius, Winddruck: 82 mm WS
Disposition: Hans-Gerd Beyer, G. Christian Lobback
Gesamtplanung, Gehäuseentwurf und Mensuren: G. Christian Lobback

Manual I C – a‘‘‘ (Hauptwerk)

01 Principal 16‘ (Prospekt)
02 Octave 8‘ (Prospekt)
03 Flûte harmon. 8‘
04 Bordun 8‘
05 Gemshorn 8‘
06 Octave 4‘
07 Rohrflöte 4‘
08 Quinte 2 2/3‘
09 Octave 2‘
10 Cornett V 8‘
11 Mixtur V 1 1/3‘
12 Trompete 8‘
13 Vogelsang
14 II – I
15 II – I elektr.
16 II – I 16‘
17 Tremulant

Manual II C – a‘‘‘ (Schwellwerk)

18 Principal 8‘
19 Holzgedackt 8‘
20 Gamba 8‘
21 Schwebung 8‘
22 Principal 4‘
23 Querflöte 4‘
24 Nasard 2 2/3′
25 Trichterflöte 2′
26 Terz 1 3/5‘
27 Mixtur IV 2‘
28 Oboe 8‘
29 Schalmei 4‘
30 Sonnenton
31 II – II 16‘
32 Tremulant

Pedalwerk C – f‘

34 Principal 16‘ X
34 Subbaß 16‘
35 Octave 8‘
36 Bordun 8‘ X
37 Choralbaß 4‘ X
38 Posaune 16‘
39 Trompete 8‘ X
40 Perkutant
41 II – P
42 II – P 4‘
43 I – P

Eine Orgel für das 21. Jahrhundert

Nach Abschluß der Bauarbeiten an der neuen Orgel von St. Andreas ist ein Rückblick auf die Zeit der Vorüberlegungen und Entscheidungen, die zu dem jetzt realisierten Orgelwerk geführt haben, für den interessierten Leser sicherlich aufschlußreich.

Die ebenerdige Aufstellung der Orgel, vor der südöstlichen Querhauswand, ist eine Standortlösung ohne gleichwertige Alternative; im Hinblick auf die große Bedeutung für die klanglich-musikalische Wirkung und Integration in den gotischen Raum der Kirche war diese Entscheidung die Voraussetzung für das nunmehr erreichte Ergebnis.

Dafür bin ich den Gremien der Gemeinde sehr dankbar, die diese Entscheidung zu treffen hatten, was ja auch den Abriß der vor der südlichen Querhauswand befindlichen Empore erforderlich machte. Gewonnen hat mit dieser Baumaßnahme nicht nur die Orgellösung, sondern auch das südliche Querhausfenster von JOHANNES SCHREITER und damit auch der eindrucksvolle Kirchenraum mit seiner großen kathedralischen Akustik. Schreiters berühmte Entwürfe zur Gesamtverglasung der Heidelberger Heiliggeistkirche kannte ich bereits; daß dieser weltweit bekannte zeitgenössische Glasbildner auch für die Pfarrkirche St. Andreas tätig wurde, überraschte mich bei der ersten Besichtigung schon; und so ist auch der Orgelentwurf von Schreiters Südfenster beeinflußt worden. Bei den Verglasungen geht es Schreiter weniger um das Glas als Material, als vielmehr um die Lenkung von Licht („Auf der Suche nach dem Licht der Welt“, der Wahrheit), welches als Ausstrahlung (Emanation) des Göttlichen verstanden wird (1).

Entgegen meiner Entwurfspraxis habe ich die frontseitige Prospektgestaltung nicht drei- sondern zweidimensional angelegt, um eine möglichst große Reflexionsebene für das durch Schreiters Südfenster NIE WIEDER KRIEG gelenkte Licht zu erreichen. So ist meines Erachtens ein guter Zusammenklang von Orgelarchitektur und Schreiters Glasfenster entstanden.

Bedeutsamer für den Orgelentwurf war aber die gotische Kirche mit ihrer langen und wechselvollen Vergangenheit, die wahrscheinlich bis in das 12. Jahrhundert zurück reicht, dem Zeitpunkt also, wo in Frankreich der übergang von der Romanik zur Gotik beginnt. Das gotische Kreuzgewölbe beruht ja auf dem Prinzip, seitlichen Druck in senkrechten Druck umzuwandeln. Die Symphonie der Spannungen, unter denen die Steine stehen, hebt das lastende Gewicht des Gewölbes auf, so daß es unter dem seitlich andringenden Druck der Streben eher nach oben als nach unten ausbräche. Alles befindet sich also in fortwährender Spannung, welche durch die Kunst des Baumeisters „gestimmt“ werden kann, nicht anders als man eine Harfensaite stimmt. Daß der gotische Raum ein Musikinstrument sei, ist nicht nur ein schöner Vergleich, er ist es tatsächlich (2). Und so ist es eigentlich gar nicht verwunderlich, daß das gotische Bausystem auf harmonischen Beziehungen (harmonikalen Proportionen) beruht, die LOUIS CHARPENTIER zutreffend als „GEOMETRISCHE TONLEITER“ bezeichnet hat.

Man kann in gotischen Kirchen viele Intervall-Proportionen antreffen. Der Grundriß des südlichen Querhauses, wo sich die Orgel befindet, entspricht z.B. ziemlich exakt dem Quintverhältnis 3 : 2 und im polygonalen Chorschluß von St. Andreas findet sich die Proportion 5 : 8. Viele weitere Zahlenverhältnisse könnte man aufzählen (3).

Die Schallbretter, oberhalb der zwölf Prospektfelder der Orgel (neun in der Frontgestaltung und drei im Seitenprospekt), sind durch ein ornamentales Programm gestaltet worden, das die harmonischen Formgesetze der gotischen Kirche widerspiegelt. Ich suchte in Variationen strenger geometrischer Strukturen meiner Idee einer universellen Harmonie Form zu geben. Diese Formgesetze haben eine ganzheitliche Funktion. Wir finden sie in der Cheopspyramide von Giseh genauso wie in den Atomen oder Molekülen, in der Orgel von St. Andreas genauso wie beim „Human Space“ (1995) von JEAN-PIERRE RAYNAUD, im Museum Ludwig, Köln. DüRERS Kanon des menschlichen Körpers (1528) schließlich, zeigt ebenfalls die singuläre Bedeutung dieser harmonikalen Proportionen auf.

29 klingende Register bilden die Disposition der Orgel. Jedem der drei Teilwerke der Orgel (I., II. Manual und Pedal) sind Register mit einer genau fixierten Tonhöhe zugeordnet:
im Hauptwerk (I. Manual) sind es folgende Tonhöhen: 16′, 8′, 4′, 2 2/3′, 2′, 1 3/5′, 1 1/3′, 1′, 2/3′, 1/2′, 1/3′
im Schwellwerk (II. Manual): 8′, 4′, 2 2/3′, 2′, 1 3/5′, 1 1/3′, 1′, 2/3′
und schließlich im Pedalwerk: 16′, 8′, 4′ .

Wer diese drei Zahlenreihen vergleicht wird feststellen, daß im Pedal ausschließlich die Grundstimmen vertreten sind und die Obertöne fehlen. Diesem scheinbaren „Mangel“ wird durch eine Koppel II – P 4′ und ein Schlaginstrument, dem Perkutanten (4) nachdrücklich entgegengewirkt.

Neben der Tonhöhen-Zusammensetzung ist der Energieanteil (Tonstärke) des einzelnen Registers wichtig. Das Tongewicht eines jeden Registers in der Disposition der St. Andreas-Orgel wurde bestimmt mit Hilfe eines harmonikalen Proportionssystems, den Teiltonkoordinaten (5). Diese Arbeiten sind umfangreich und müssen die Raumakustik und den Standort der Orgel in die überlegungen einbeziehen. Die Tongewichtung wird sodann mit Hilfe der Pfeifenmensuren, des Winddrucks, des Windenergieverbrauchs (6), der Schleifenwindladen, des Orgelgehäuses und natürlich durch die Klanggestaltung in der Kirche selbst, festgelegt. Nach der am 9. Oktober 2001 erfolgten übergabe kann das Ergebnis dieser Bemühungen nunmehr gehört und gesehen werden.

Die Orgel verfügt über alle nötigen Eigenschaften für das liturgische Orgelspiel; sie ist zu allen Begleitaufgaben vom solistischen Gesang bis hin zum Gemeindegesang bei vollbesetzter Kirche durch ihre dynamische Spannweite geeignet. Der musikalische Wert des Instruments besteht darin, daß polyphone Musik, aufgrund der (fast) lückenlosen Klangpyramide, darstellbar ist und auch die Orgelmusik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Liszt, Brahms) ist auf dieser Orgel spielbar, wobei die Registerzahl natürliche Grenzen setzt. Sicherlich lassen sich auch viele Werke aus der Zeit vor 1700 und nach 1930 befriedigend interpretieren.

Der Pfarrgemeinde, den Gremien der Gemeinde und den aktiv Mitwirkenden möchte ich für das große Engagement und die gute Zusammenarbeit sehr herzlich danken. Zu danken habe ich auch meinen Mitarbeitern, die die anspruchsvollen Arbeiten mit der gewohnten Professionalität ausgeführt haben. Ein besonderer Dank gilt dem Kirchenmusiker Hans-Gerd Beyer, der durch seine Mitwirkung wesentlich zu dem nunmehr erreichten Ergebnis beigetragen hat.

Die neue Orgel ist ein Instrument, das nicht nach den Regeln der Tagesmode gebaut worden ist. „Wir bedürfen immer wieder des Neuen. Das Gegenteil des Neuen ist keineswegs das Alte oder Bewährte, sondern das Allzu-Gewohnte oder Ab-Gebrauchte. Das Neue ist nicht modisch. Es gibt keine Methode, das Neue zu entdecken, will aber eine Dimension: das offene Ohr, der freie Blick.“ (DIETER SCHNEBEL, deutscher Komponist).

Quellen und Hinweise:
(1) Die Kunst Johannes Schreiters, GUNTHER SEHRING, Internet: www. langen.de / glasmuseum
(2 Die Gemeimnisse der Kathedrale von Chatres – LOUIS CHARPENTIER, Seite 39, Gaia Verlag H. Albert Schulz, Köln, ISBN 3-87732-003-1
(3) HANS KAYSER – Der hörende Mensch, Lambert Schneider Verlag, für die Lizenzausgabe: Engel & CO. Verlag Stuttgart, 1993, ISBN 3-927118-05-2, S, 274; Nun ist die Literatur über diese Gesetzlichkeiten der Gotik, …, außerordentlich groß, aber auch hier handelt es sich meistenteils um Analysen mit irgendeiner geometrischen Form oder einer Propor-tion, von der man glaubte, daß sie vorzugsweise für die gotische Bauweise bestimmend gewesen sei. Es wiederholt sich hier der alte Fehler, … : Aus der Zahlenharmonik wird irgendein Problem herausgegrif-fen und dieses nun für alleinseligmachend gehalten. Daß aber an einem so ungeheuren Bauwerk … das gesamte Proportionswissen … angewandt wurde, … zeigen die Bauwerke der Gotik selbst.
(4) Der im Pedal der Orgel disponierte Perkutant ist eine Neukonstruktion der Werkstatt LOBBACK und ist gesetzlich geschützt. Zwei kreisrunde Metallplatten, deren Ränder nach oben abgewinkelt sind, werden durch eine zuschaltbare Tangenten-Mechanik, die in die Pedaltraktur integriert ist, angeschlagen. Die Schlagenergie kann vom Organisten durch unterschiedliche Schlagtechnik gestaltet werden. Auch kom-plizierte Rhythmen und schnelle Pedalläufe sind gut darstellbar. Der klirrend-metallische Klang ist ge-räuschhaft und mit unharmonischen Obertönen gesättigt. Durch die Registrierung mit anderen Registern aus dem Pedal oder die Kopplung mit Manualregistern können mannigfaltige Klänge gemischt werden.
(5) Teiltonkoordinaten erlauben die Festlegung einer Rangordnung der Tonhöhen-Gruppen, also 16′, 8′, 4′, 2 2/3′, 2′, 1 3/5′, 1′ usw. hinsichtlich ihrer Tonstärke. Bezogen auf die Disposition der St. Andreas-Orgel ergibt sich folgende Tongewicht-Rangordnung für die Register, die jeweils einer der folgenden Tonhöhen zugeordnet werden können: Fußzahl: 16′, 8′, 4′, 2 2/3′, 2′, 1 3/5′, 1 1/3′, 1′, 2/3′, 1/2′, 1/3′ Tongewicht: 1 5 2 1 1 1 1 1 1 1 1 Diese Gewichtung der Fußzahlen (Tonhöhen) in der Rangfolge gilt es bei dem Entwurf, dem Bau und der Klanggestaltung (Intonation) der Orgel umzusetzen.
(6) Vortrag von Hans-Henny Jahnn am 07.06.1925 anläßlich der Organistentagung Hamburg-Lübeck: „Nun – aller Weisheit und Ende gründet sich im Orgelwind und zwar im Verbrauch innerhalb einer Pfeifenreihe, und ich möchte den Satz aufstellen, daß jede Mensur, die nicht letztlich eine Windmensur ist, verfehlt ist. Die Pfeife ist nämlich nichts weiter als die immer wieder benutzte Form, in die hinein eine bestimmte Menge Wind gegossen wird, um als Stoff des Klanges daraus hervorzugehen.“
(7) Weitere Informationen zur Orgelbauwerkstatt Christian Lobback im Internet: www.orgelaspekte.de